Scratching - Kratzen

SCRATCHING – KRATZEN
Martin Zawadzki

Noch nie waren es nur Künstler/innen, die sich in den Bereich einschreiben, der mal „Straße", mal „öffentliche Räume" oder „Öffentlichkeit" genannt wird. Sie, die zumindest zeitweise der stickigen Luft ihrer Akademien, Museen und Galerien entrinnen wollten, trafen da draußen auf Leute, die sich in zum Teil ganz ähnlichen Zeichensprachen auszudrücken wussten und bereits über lange, inoffizielle Traditionslinien verfügten, was das Wissen über die kulturpolitischen Lizenz- und Verbotsstrukturen der „Kontrollgesellschaften" betrifft. „Graffiti" wurden schon 1976 von dem Philosophen Jean Baudrillard in seinem Buch „Der symbolische Tausch und der Tod“ als kulturtheoretisch relevantes Phänomen, als Zeichen einer subjektiven, aber auch neo-tribalen Kultur der städtischen Territorialpolitik behandelt. Das Gefühl, das sich in den auf sämtliche kahlen Wände der neuen Raumstädte gesprayten Bildern, Zeichen und Tags nicht nur ein „Zeitgeist", sondern eine Krise des Öffentlichen Bahn brach, hat sich bis heute nicht vermindert, eher verstärkt. Nur für Puristen, die sich über das Ende der „goldenen Ära" beklagen, sind die Zeichnungen im (vormals) öffentlichen Stadtraum irrelevant geworden, nachdem Graffiti zum Gegenstand von Kreativkursen und akademischen Lehrplänen gemacht wurde - schon vor 20 Jahren bezahlte die Malereiklasse einer deutschen Kunstakademie einen „Graffitikünstler" dafür, dass er den für ihre eigenen Abschlussarbeiten zugedachten Raum in den schönsten Farben zusprayte.

Die zerstörerische Geste des Besprühens von „öffentlichem Eigentum" oder „Privateigentum" mit verbal kaum leserlichen Botschaften, schnell von „echten" Künstler/innen als neoliberale Rocaille verspottet, ließ indes eine eigene anfangs subkulturelle Graffiti-Kleinindustrie, ja einen gut funktionierenden Regelkreis aus Überschreitung, Kontrolle, reinigungstechnischer Dienstleistung und Prävention entstehen. Die hier entstandene Branche hat sich unter anderem durch die Inkorporierung radikaler aussehender, aus „echtem Elend" stammender Formen (wie der „Pixacao" aus Sao Paulo) mit frischem Kreativblut versorgt, vor allem aber gelang es im heranwachsenden Medienverbund mit Internet und sozialen Netzwerken, das Megaphänomen „Street Art" erfolgreich bei einer jungen Konsument/innengeneration zu platzieren, die sichtbaren, aber schwer verkäuflichen Tags und Patterns mobil, flexibler, vermarktbarer zu machen.

Mit dem Scratching, dem absichtsvollen Zerkratzen vor allem von Fensterscheiben in Bahnen und Bussen, ist seit Mitte der 1990er Jahre eine Variante des „Zeichnens" hinzugekommen, die sich bislang noch den meisten Domestizierungsbemühungen widersetzt und wegen ihres zerstörerischen und nicht leicht zum Modeschmuck erklärbaren Charakters vielfach als „radikal" betrachtet wird. In einem Wikipedia-Eintrag zum Thema liest man: „Legales Scratching ist im Gegensatz zu legalen Graffiti nicht sehr verbreitet." Zu den Besonderheiten des Scratchens und Scratch-Tagging (wie auch zu denen des Etching, dem chemischen Verätzen glatter Oberflächen) gehört nicht allein die Destruktion einer von vielen genutzten Oberfläche, die im Sinne des Gesetzes als „Vandalismus" bezeichnet wird, sondern auch das Verstellen tourismusrelevanter Sichtmöglichkeit der immer auch als Standortpräsentation genutzten Verkehrsmittel. Den Fahrgästen wird nicht nur eine ungelenke und zerstörerisch wirkende Ästhetik aufgezwungen, ihnen wird auch der als allgemeiner Freizügigkeit zugehörige Blick auf die Stadt als Reiseziel genommen.

An dieser Stelle setzte das ästhetische Experimentieren von Martin Zawadzki an, aus dem sich die Ausstellung „Scratching" bei after the butcher ergeben hat. Schon lange haben ihn diese Zeichen im Außenraum beschäftigt, sie erschienen ihm zunächst vielleicht auch nur als Niederschlag einer mehr oder weniger kompensatorischen Gewalt gegen Sachen, die auf direkte und symbolische Gewaltverhältnisse in der hiesigen ungleichen Luxusgesellschaft zurückgeht. Seine Recherchen haben den zuletzt vor allem als Filmemacher und Autor von Hörstücken tätigen Künstler sowohl zu Interviews mit Angehörigen der Scratch-Szene geführt, als auch zu der Begegnung mit Angestellten der Berliner S-Bahn-Betriebe. Wie oft, wenn man sich näher mit einer Sache auseinandersetzt, war es auch hier eine Art Seitenblick, der nicht nur gescratchtes Muster und überdeckten Hintergrund wahrnimmt, sondern dem assoziativ dämmert, dass es sich bei der Geste des Scratchens aus einer abstrakteren Sicht vielleicht auch um eine aus einem gesellschaftlich akzeptierten, kulturellen Bereich verschobene Handlung handelt - kurz: ihm fiel auf, dass die Unterschiede zwischen einer mit abstrakten, frei gestischen Mustern und Zeichen zerkratzten Fensterscheibe und einer grafischen Druckplatte sehr feine sind. In der Ausstellung zu sehen sind darum die Ergebnisse einer schöpferischen Anverwandlung eines Sachbestands, dessen zerstörerische Züge eigentlich weit im Vordergrund zu stehen schienen – es scheint ja ausgemacht, dass die breit nebeneinander gelegten Streifen aus parallelen Kratzern nicht in irgendeiner Weise künstlerisch gemeint sein können, und falls doch, auf ein „Missverständnis" eines allgemein als konstruktiv angenommenen Charakters kultureller Handlungen hindeuten.

Zawadzki hat aufgrund ihres zerkratzten Zustands aus der Berliner S-Bahn ausgebaute Fensterscheiben wie Tiefdruckplatten verwendet und Abdrucke der Kratzspuren auf Papier gedruckt. Die „Originale" werden durch seine Umnutzung zur potentiellen Grundlage eines Auflagendrucks. Damit wird aber nicht nur auf provozierende Weise verdeutlicht, dass sich jedwede Geste der Rebellion und der Zerstörung (und damit auch das Scratching) in eine kulturelle Sprache übersetzen, in die kulturelle Konvention zurückführen lässt. Zawadzki schafft es mit der künstlerischen Nutzung der schon einmal als irrelevant oder schädlich abgelegten „Druckplatten", die formalen Qualitäten bestimmter Beispiele des Scratching offen zu legen und als Diskussionsgegenstand verfügbar zu machen - aus dem Erscheinungsbild der Drucke lässt sich die Frage formulieren, ob es so etwas wie eine mehr als oberflächliche Verwandtschaft zwischen den Scratchings und zeichnerischen Gesten der „arts premiers", also den aus eurozentrischer Perspektive „peripheren" Kulturen ("Naturvölkern") entnommenen Artefakten aus dem Zeitalter des Kolonialismus und zugleich des Primitivismus gibt. Auch die institutionell besorgten Grenzziehungen zwischen abstrakter oder lyrischer Expression, dem ganzen Formen- und Gestenvokabular der Kreation, stehen damit zur Disposition. Darüber hinaus hat sich Martin Zawadzki aber auch für den Kontext der Kratzattacken interessiert, denn sie sind in gewisser Weise erst als Antwort auf Strategien der Verunmöglichung von gesprayten und gemarkerten Besetzungen von Freiflächen in der S-Bahn entstanden - da mit der Zeit die Wände mit Farbe abweisenden Schichten überzogen und die Sitzbänke mit einem speziell zur psychologischen Abwehr von Graffitiaktionen gestalteten Musterbezug versehen wurden, Ausweichflächen wie Boden oder Decke ebenso schwer permanent zu markieren waren, verlagerten die Tagger ihre Aktivitäten eben auf das Scratchen der Fenster- und Türenscheiben der S-Bahnen. Setzt man als Motivation eben nicht einen potentiell befreienden künstlerischen Ausdruckswillen voraus, sondern eine mehr oder weniger politische, mehr oder weniger subjektive Intention der grundlegenden semiotischen Lebensäußerung, dann kann man tatsächlich von einer konsequenten Weiterentwicklung bei der Dauerhaftigkeit der Markierungen sprechen. Glaubt man den wenigen Beschreibungen – aufgrund ihres stärkeren Destruktionscharakters und ihres antitouristischen Impulses, aber auch wegen ihrer ästhetischen Sprödigkeit gibt es noch relativ wenig „Literatur" zum Scratching – dann ist das Kratzen auch aufgrund der Einfachheit seiner technischen Mittel (Glasscherben oder in allen Waggons verfügbare Nothammer) eine ganz immanent gedachte und dadurch so ungeheuer effektive Problemlösung.

Typischerweise auch für die in seinen anderen Wirkungsbereichen angewandte Neugier, lässt es Zawadzki nicht bei den druckgrafischen Erzeugnissen nach S-Bahn-Scheiben bewenden, er denkt mindestens eine Ecke weiter, indem er in einem zweiten Raum das reaktive Wechselspiel von Aggression, Prävention und Reparatur aufgreift. Ihn interessiert mindestens ebenso stark wie die zerkratzten Scheiben und deren mögliche, im Schlüssel der Kunst lesbare Gehalte, die so rätselhaften wie hässlichen (und dabei so offensichtlich wirkungsvollen) rot-blau-schwarzen Sitzbezüge der S-Bahnen, die wie gesagt den Sprayern die Lust am Sprayen nehmen sollen. Diese Wirkung ist schwer seriös nachzuweisen, doch scheint die Gestaltung des Flächenmusters eine bestimmte Eigenschaft zu besitzen: sie liefert eine bereits maximal gestörte Oberfläche, auf der sich die allermeisten Farbattacken geradezu harmlos und unterlegen erweisen. Die Strategie der Bahnen, die solche Muster einsetzen, ließe sich also auch so interpretieren: Wir zerstören die Ästhetik unserer Sitzbänke lieber schon einmal selbst und nehmen der Aggression so ihr Ziel. Interessanterweise sind die verwendeten Muster zum Teil den Form und Umriss kaschierenden Tarnmustern von Militärgerät und -kleidung sehr ähnlich. Sie erzeugen ein formal so entropisch zugespitztes ästhetisches Milieu, dass die genrehafte Redensart „Widerstand ist zwecklos" äußerst plastisch verstehbar wird. Außerhalb Berlins sind bei anderen Verkehrsbetrieben mittlerweile fast flächendeckend ähnliche Muster im Einsatz - zum Teil erinnern sie durchaus an die (ironisch gemeinten) abstrakten Muster auf Gemälden von Sigmar Polke. Eigentlich handelt es sich ja bei den Plastikbezügen in gewisser Weise auch um Drucke - die zudem gefährlich nahe an hochkulturell akzeptiertem grafischem OpArt-Augenpulver situierbar sind. Zawadzki hat einen kleineren Posten dieser Bezüge auftreiben können, genug, um die Wände im hinteren Ausstellungsraum von after the butcher im All-over-Stil damit auszukleiden - wo die manipulativen Präventionsmuster einen impliziten, aber sehr spannenden Dialog mit den weißen Galeriewänden eingehen, so dass sich die beiden unterschiedlichen Strategien ästhetischer Neutralisierung wechselseitig kommentieren.

Die Irritationsmuster an der Wand des Kunstraums erinnern aber auch an die kunsthistorische Rolle, die Künstler im 19. und 20. Jahrhundert bei der Entwicklung von Tarnmustern, zum Beispiel bei der Gestaltung der „dazzle ships" gespielt haben, die jede Fernerkennung von Kriegsschiffen vereiteln halfen. Zawadzki sieht im Scratching, so viel wird aus der Ausstellung klar, kein ideales Restfeld künstlerischer Radikalität - ihn interessiert eher das gar nicht so klare Wechselspiel zwischen den Ebenen und Seiten, zwischen Scratchen und Reinigen, Vorbeugen und Scratchen, etc., das anscheinend rein auf der Ebene der Zeichen in demjenigen Raum ausgetragen wird, der vor Zeiten noch als „öffentlich" galt und nun ein restflächenfreies Gebiet privat-öffentlicher oder ganz privater Interessen geworden ist. Natürlich kann man sich auch die kulturalistische Vereinnahmung des Scratching bereits vorstellen - hier wäre ja doch eine Anlehnung an die Zierästhetiken der gravierten und geätzten Glastüren in Bürgerhäusern des 19. Jahrhunderts (wenn auch mit Grausen) vorstellbar - einen tag name wie „Artful Scratcher" dürfte es in absehbarer Zeit nicht geben, denn „Scratching" wird in den relevanten Szenen noch immer hauptsächlich als das verstanden, was es seit dreißig Jahren war - eine DJ-Technik. Dass Zawadzki sich auch durchaus nicht nur für die isolierte, schon in Produktnähe geronnene Erscheinungsform des Scheiben-Scratchens interessiert, zeigt die inhaltliche Verwobenheit seines Projekts mit den Beiträgen zweier geladener Künstler/innen: der Scratch-Film-Performance der New Yorker Videokünstlerin Ursula Scherrer im Zusammenspiel mit der Audioinstallation des Berliner Klangkünstlers Moritz Fehr. Die Aufzeichnung dieser Performance wird nach der Eröffnung als Feedback in das aus Scratch-Drucken und S-Bahn-Sitzbezügen vorgegebene Ausstellungsenvironment bei after the butcher eingespeist werden und so nicht nur Produkte, sondern auch Prozesse visuell und akustisch erfahrbar machen. Scherrer hat eine grosse Erfahrung im traumwandlerischen, aus der Tradition des automatic drawing bezogenen Umgang mit skripturaler und gestischer Zeichnung, die sie durch elektronische Medien ereignishaft verstärkt, Fehr besitzt ein hochentwickeltes Sensorium bei der dreidimensionalen, immersiven Vermittlung eigentlich elektronikferner Materialitäten und Geräusche.

Clemens Krümmel

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